Gespräch von Frau und Herrn Müller mit Karl-Heinz Pantke

Herr Müller leidet unter den Folgen des Locked-in-Syndroms. Hierbei ist der Patient anfangs vollständig gelähmt. Auch Schlucken und Sprechen sind nicht möglich. Wegen verspäteter Behandlung ist Herr Müller nach über drei Jahren noch fast vollständig gelähmt und kann lediglich die linke Hand sowie den Kopf bewegen. Deshalb gestaltet sich das Gespräch sehr zeitaufwändig. Durch das Schlagen des Augenlides müssen Buchstabe für Buchstabe buchstabiert werden. Teilweise fallen die Antworten von Herrn Müller deshalb sehr kurz aus. Frau Müller ist freundlicherweise bei der Verständigung behilflich. Das Interview wurde im Dezember 2001 von Karl-Heinz Pantke für LIS e.V. in der Berliner Wohnung von Herrn Müller geführt.

K.-H. P.: Wie lange haben Sie an dem Buch gearbeitet?
Hr. M.: Ein halbes Jahr.

K.-H. P.: Was bedeutet das Schreiben für Sie?
Hr. M.: Es hat dazu beigetragen, die Krankheit zu verarbeiten. Es hat auch die Rückkehr nach Hause erleichtert.

K.-H. P.: Hat die Krankheit das Verhältnis zu Ihrer Frau oder Ihren Kindern geändert?
Hr. M.: Nein.
Frau M. ergänzt: Eher ja, er erlebt alles intensiver als vor der Krankheit. Frau und Kinder sind die wichtigsten Personen in seinem Leben, denn sie sprechen bzw. buchstabieren mit ihm.
K.-H. P.: Das kann ich gut nachvollziehen. Ich leide selbst an den Folgen des Locked-in-Syndroms. Menschen, die bis an die Pforten des Todes gehen, kommen nicht als jene zurück, als die sie sich auf den Weg machen. Ich bin heute mehr über Alltäglichkeiten erstaunt. Ein Beispiel: Ich wache morgens auf und es kommt mir wie ein Wunder vor, dass mein Herz ohne mein Dazutun schlägt. Vor dem Infarkt hätte ich daran keinen Gedanken verschwendet.

K.-H. P.: Gibt es auch Personen, die sich abgewandt haben?
Hr. M.: Ja, eine ältere Tante.
Nachtrag Hr. M. (schriftlich): Es ist nicht so, dass sich diese Person total abgewandt hat. Es handelt sich um meine 86-jährige Lieblingstante. Sie steht mit uns in schriftlicher und mündlicher Verbindung, lehnt aber den persönlichen Kontakt ab, weil sie mich als gesunden Menschen in Erinnerung behalten will.

Herr und Frau Mueller auf der Tagung in Rheinsberg

K.-H. P.: Sind Sie ihr böse?
Hr. M.: Nein.

K.-H. P.: Ist das nicht ein Stück Selbstverleugnung?
Hr. M.: Nein.

K.-H. P.: In Ihrem Buch erwähnen Sie eine Zeit zwischen Traum und Realität. Haben Sie einen Namen dafür?
Hr. M.: Wie im Film.

K.-H. P.: Egal wie wir es nennen, ob „wie im Film“, „Realitätsverlust“, „wie im Traum“ oder „Halluzination“, einen richtigen Namen haben wir für diesen Zustand nicht. Ist es möglich, dass die Schmerzen, unter denen Sie seit dem Infarkt leiden, und für die sich nach eigenen Angaben keine organische Ursache finden läßt, auch hier ihren Ursprung haben?
Hr. M. (schriftlich): Ich weiß von meiner Frau, dass ich die ersten drei Monate nach dem Infarkt um mein Überleben kämpfte. Ich konnte nur das rechte Augenlid bewegen. Man konnte mit mir sprechen, jedoch mussten Fragen so gestellt werden, dass ich sie mit „ja“ oder „nein“ beantworten konnte. Ich habe damals zwar alles mitbekommen, konnte mich aber nicht mitteilen. Ich erklärte mir die Träume so, dass diese aus der Verdrängung meines Zustandes folgten. Auch die Schmerzen könnten hier ihre Ursache haben. Ich konnte damals nicht ohne Missempfindungen auf meinen Körper blicken. Ich hatte das Gefühl, dass mir die Schwestern und Pfleger Dummies ins Bett legten, die die Schmerzen verursachten. Meine Beweglichkeit stieg mit der Zeit. Dadurch fand ich heraus, dass mir die Schmerzen nicht von aussen zugefügt wurden, sondern Phantomschmerzen sind.

K.-H. P. : Ich glaube, jeder versteht, wie furchtbar die Realität nach dem Infarkt ist. Wahrscheinlich übersteigt das Wissen um diesen schrecklichen Zustand das, was ein Mensch ertragen kann und führt für viele Patienten direkt in den Tod. Etwas ist unklar. Sie sagen, dass Schmerzen und Träume bedingt durch Ihren Gesundheitszustand sind. Ist seit dem Infarkt eine Besserung eingetreten? Hr. M.: Ja.

K.-H. P.: Könnten Sie sich vorstellen, dass auch die Schmerzen mit einer weiteren Verbesserung Ihres Gesundheitszustandes ganz verschwinden?
Hr. M.: Ja.

K.-H. P.: Woher wissen Sie, dass Sie die Traumwelt heute verlassen haben?
Hr. M.: Weil ich aktiv am Leben teilnehme.

K.-H. P.: Waren Sie während der ersten Monate nach dem Infarkt besonders misstrauisch? Bei der Lektüre des Buches hatte ich den Eindruck.
Hr. M.: Nein.
Seine Frau ergänzt: Ihm wurde in der Klinik nur wenig erklärt. Es wurde nur wenig mit ihm gesprochen, und niemand hatte die Zeit oder Geduld, seine Antwort abzuwarten.
Nachtrag Hr. M. (schriftlich): Ich bin mit meiner Frau 36 Jahre bekannt und 30 Jahre verheiratet. Zu keiner Zeit hatte ich Anlass für Misstrauen oder Eifersucht. Mir ist nicht nachvollziehbar, warum ich meine Frau grundlos in den Träumen des Fremdgehens bezichtigt habe. Die Gründe lagen offensichtlich in meiner Situation nach dem Schlaganfall. Aufgerüttelt haben mich ihre Worte, „Wache endlich auf aus deinen Träumen, und stelle dich mit mir der Zukunft.“
Kommentar von K.-H. P.: Es fällt sofort der Widerspruch zwischen dem anfänglichen „nein“ und dem schriftlichen Nachtrag auf. Eine Nachfrage ergibt, dass sich das anfängliche „nein“ auf den Moment des Erlebens bezieht, während der schriftliche Nachtrag offensichtlich den Rückblick beschreibt.

K.-H. P.: Sie sind zu 100% von Anderen abhängig. Können Sie sich Misstrauen überhaupt leisten? Hr. M.: Ja.

K.-H. P.: Was war Ihre schrecklichste Erfahrung während der ersten Krankheitsmonate?
Hr. M.: Keine besondere Begebenheit.
K.-H. P.: Nach der Lektüre Ihres Buches hatte ich eine andere Meinung.
Nachtrag Hr. M. (schriftlich): Ich habe das erste halbe Jahr nach dem Infarkt nicht bewusst erlebt. Ich war der Meinung, ein Film wird gedreht, in dem meine Frau und ich die Hauptrollen spielen. Ich habe zwar alles mitbekommen, jedoch vieles nicht für Realität gehalten.

K.-H. P.: In Ihrem Buch beschreiben Sie, dass der Rückblick schmerzt. Aber es gibt sicher auch Betrachtungen, die in die Zukunft gerichtet sind. Was ist Ihr sehnlichster Wunsch?
Hr. M.: Wieder sprechen zu können. Die Situation belastet mich sehr.
Frau M. ergänzt: Auch möchte er seinen Enkelsohn öfters sehen.

K-H. P. (zu Frau Müller): Ihr Mann trägt ohne Zweifel schwer an seinem Schicksal. Sie hat es bis zu einem gewissen Grade mitgetroffen, müssen Sie doch alle Arbeiten, die sonst Ihr Mann erledigt hat, mitverrichten. Worin bestand die größte zu überwindende Schwierigkeit bei der Behandlung zuhause?
Frau M.: Große Schwierigkeiten hatten wir am Anfang, das Haus zu verlassen. Aber mit Fertigstellung eines Liftes am Balkon wurde das Leben leichter. Wir können jetzt das Haus ohne Hilfe verlassen.

K.-H. P. (zu Frau Müller): Hat man Ihnen geraten, Ihren Mann nach Hause zu holen?
Frau M.: Ich wurde gut vorbereitet. Ich habe meinen Mann bereits sehr früh jedes Wochenende nach Hause geholt. Grosse Unterstützung habe ich von unseren Kindern bekommen. Da ich von Anfang sagte, mein Mann kommt nicht ins Heim, hat mir die Krankenkasse auch alle Geräte und Hilfsmittel bewilligt. Jetzt, nach zwei Jahren, muss ich sagen, die Entscheidung war richtig. Der Schritt stand für mich von Anfang an fest. Zu diesem Schritt musste ich nicht überredet werden.

K.-H. P. (zu Frau Müller): Ich wollte jedoch eigentlich wissen, wozu man Ihnen in der Rehaklinik geraten hat?
Frau M.: Es gibt keine einheitliche Antwort. Ich stieß auf Zustimmung wie Ablehnung. Zustimmung erhielt ich, nachdem man merkte, dass ich meinen Mann an den Wochenendaufenthalten während der Zeit in der Klinik durchaus zu Hause pflegen konnte. Aber es gab auch Ablehnung. Jemand fragte mich: „Was wünschen Sie für Ihren Mann? Ein langes Leben im Heim oder ein kurzes Leben zu Hause?“

K.-H. P. (zu Frau Müller): Wieviel Therapie bekam Ihr Mann in der Rehaklinik? Wieviel bekommt er jetzt?
Frau M.: Die ersten sechs Wochen wurde mein Mann lediglich durchbewegt, ohne therapiert zu werden. In der Rehaklinik bekam er täglich Ergo- und Physiotherapie und wurde aufs Laufband gestellt. Ausserdem gab es dreimal pro Woche Logopädie und zweimal Musiktherapie. Zu Hause bekommt mein Mann täglich Physiotherapie und zweimal pro Woche Ergotherapie und 4-5 Mal Logopädie. Bei der Physiotherapie wird am Stehpult und im Liegen gearbeitet.

K.-H. P.: Zum Abschuß eine Frage an beide. Was erwarten Sie von einem Verein wie LIS? Frau M.: Ich habe mehrere Erwartungen. Zunächst möchte ich über die neuesten Entwicklungen auf diesem Gebiet informiert werden. Des weiteren möchte ich über die sozialen Leistungen, die meinem Mann und mir zustehen, unterrichtet werden. Weiterhin ist der Kontakt zu anderen Personen mit dem Locked-in-Syndrom wichtig.
Herr M. (schriftlich): Der Verein ist die Heimstadt von Betroffenen der wenig bekannten Krankheit Locked-in-Syndrom und Personen, die bei der Genesung Betroffener helfen. Noch in der Klinik erfuhren wir von der Gründungsveranstaltung des Vereins. Besonders wichtig ist für mich der Kontakt zu anderen Patienten. Diese sind ein Vorbild für meinen eigenen Genesungsprozess. Auch organisiert der Verein Tagungen, die mir helfen, die Krankheit besser zu verstehen. Wir sind bemüht, die Arbeit des Vereins aktiv zu unterstützen, indem wir unsere umfangreichen Erfahrungen bei der Pflege zu Hause weitergeben und so hoffen, trotz meiner Schwerstbehinderung einen aktiven Beitrag zur Vereinsarbeit zu leisten. Ich rate jedem Betroffenen und Interessierten, Mitglied bei LIS e.V. zu werden.

K.-H. P.: Frau und Herr Müller, ich danke Ihnen für das Gespräch.